Tersch, Harald: Schreibkalender und Schreibkultur : zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Massenmediums (1500 - 1800)<
Der Schreibkalender gehört zu den frühesten multimedialen Produkten der Buchgeschichte, das Druck und Handschrift zusammenführte: der gedruckte Teil sollte als Ratgeber und Lesestoff, die freien Seiten als Schreibraum genützt werden. Kalendernotizen verdienen innerhalb einer Bibliotheksgeschichte nicht weniger Beachtung als Besitzervermerke, da sie Auskunft darüber geben können, welche verschiedenen sozialen Funktionen das Buch für einzelne Käufer hatte. Der Kalender konnte die Rolle eines Wetterverzeichnisses, eines Wirtschaftsbuches, einer Familienchronik oder eines Arbeitsprotokolls übernehmen. Kalendernotizen von Kalenderproduzenten geben überdies wichtige Informationen zur Buchproduktion. Der Untersuchungszeitraum der Studie umfasst die Inkunabelzeit bis zum aufgeklärten Reformkalender. Eine wichtige materielle Grundlage der Arbeit bilden neben Editionen erhaltene handschriftliche Kalendernotizen in einzelnen österreichischen Sammlungen.
Kalenderbesitzer machten um 1500 durch Randnotizen aus dem Druck- ein Schreibmedium. Sie bevorzugten zunächst immerwährende Kalender, da diese sich durch einen langen Berechnungszeitraum sehr gut als Familienchroniken eigneten. Käufer notierten im Sinne der gedruckten astrologischen Prognosen am Rand der Kalendarien Naturkatastrophen, Wetterverhältnisse, aber auch Krankheiten, Patenschaften, Hochzeiten und Geburten in der Familie. Die Herausgeber reagierten rasch auf diese Transformationen, indem sie private wie amtliche Schreibtraditionen in die Programmatik des Druckteils integrierten. Verfasser von protestantischen Historienkalendern schrieben etwa um 1550 ihren Benützern vor, sie sollten unter die Druckdaten wichtige Vorfälle in der Familie aufzeichnen. Dadurch banden sie die familiäre Schreibkultur an die Reformationsgeschichte. Die jährlichen Schreibkalender sahen bereits mindestens eine leere Seite für Eintragungen vor und verknüpften durch Titel wie "Tagbuch" oder "Diarium" den Druckteil mit den Notizen. Der Erfolg des Schreibkalenders im 17. Jahrhundert war deswegen unaufhaltsam, weil er am besten die Form des Protokolls integrierte, das die genaue Zuordnung eines Ereignisses zu einem bestimmten Kalenderdatum verlangte. Prälaten hielten in ihren Kalendern Visitationsreisen fest, Fürsten und Verwaltungsbeamte Vermerke über Ausgaben, Briefe und Akten. Kalenderherausgeber sahen in den Sekretären und Kanzleischreibern eine wichtige Käufergruppe. Neben dem Wetter oder Aderlässen entwickelte sich die Schreibdisziplin zu einem zentralen Thema der kalendarischen Notizen.
Eine wichtige Voraussetzung für die Benützung des Kalenders als Schreibprotokoll war die Tatsache, dass Kalender nicht den modernen Vorstellungen von einem festen, statischen Kodex entsprachen. Verleger oder Käufer "schossen" zusätzlich Blätter zwischen die Monatskalendarien ein, was eine Ausdehnung des Beschreibstoffes bedeutete. Von eingehefteten Lagen bis zu gesonderten Tagebuchheften war es nur ein kleiner Schritt. Schreibkalender dienten in Kanzleien und in Familien als Neujahrsgeschenke, wodurch das Medium fest in der familiären und amtlichen Schreibtradition verankert wurde. Sichtbarer Ausdruck der Geschenkkultur sind die oft sehr gepflegten Einbände, die Widmungen an die Beschenkten enthielten und soziale Beziehungen und Hierarchien ausdrückten. Angesichts der hohen Kalenderauflagen muss mit dem Verlust eines Großteils des Bestandes gerechnet werden. Spuren von verlorenen Schreibkalendern lassen sich in handschriftlichen Bibliothekskatalogen, Wirtschaftsaufzeichnungen, in Reinschriften der Kalendernotizen oder in Textüberarbeitungen finden. Schreiberinnen und Schreiber des 16. bis 18. Jahrhunderts exzerpierten ihre jahrzehntelang geführten Eintragungen mit Methode, sie fügten sie zu chronologischen Lebensläufen zusammen und kombinierten sie mit Reiseberichten und Briefen. In der Aufklärung ließ sich die traditionelle Form der Kalendernotizen durchaus in neue anthropologische Modelle der Biographie integrieren, indem Schreiber die kalendarischen Fakten mit persönlichen Erinnerungen und Erkenntnissen während des Überarbeitungsprozesses konfrontierten.
Am Schluss der Arbeit stehen Hypothesen über die sinkende Bedeutung des Schreibkalenders für die Schreibkultur um 1800. Ein Grund bestand in der veränderten Tagebuchkultur des 18. Jahrhunderts. Vom Tagebuchschreiber wurden zunehmend detaillierte moralische Selbstreflexionen, aber auch Natürlichkeit und "Esprit" verlangt, was sich in einem derart traditionellen Medium wie dem Kalender kaum verwirklichen ließ. Weiters erlebte das Druckmedium des Schreibkalenders als "Bibel des Aberglaubens" eine substantielle Krise. Kalenderreformen der Aufklärung verboten astrologische Prognosen, sie integrierten dagegen Statistiken und legten die Schreibräume durch Spalten fest. Die neuen Rahmenbedingungen der Reformkalender förderten Vermerke, die weniger die Vergangenheit protokollierten als die Zukunft organisierten. Schließlich verhinderte der Siegeszug des Verlegereinbandes im 19. Jahrhundert eine Ausdehnung des Schreibraumes durch eingeschossene Blätter. Der Schreibkalender verschwand gegenüber neuen ökonomischen Formaten wie Agenda und Notizkalender, die bestimmte Schreib- und Schriftformen wie die Stenographie begünstigten.